Annelie Seemann durfte im Rahmen der Ausstellung "LETTERS TO THE MAYOR - BERLIN", organisiert durch die DAZ, einen Brief an
den Regierenden Bürgermeister Michael Müller verfassen. Die Ausstellung läuft noch bis zum 02.02.2020.
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
Wenn ich gefragt werde, was ich an Berlin als Stadt mag, dann kommen mir viele
Gedanken in den Kopf: Berlin ist die Stadt der Gegensätze. Ost und West wäre die
einfache, zu erwartende Antwort. Vielmehr ist Berlin auch Nord und Süd, Märkisches
Viertel und Köpenick oder Molle und Korn in der Eckkneipe im Kontrast zur gehobenen
Stemeküche im Borchardt's. Berlin strahlt, geprägt durch seine Bürgerinnen und Bürger,
ein unbeschreibliches Flair in seinen Kiezen aus.
Generell fühlt sich Berlin wie eine Ansammlung von Kiezen an, welche in ihrer Gesamtheit
diese Stadt der Kontraste, der unterschiedlichen miteinander lebenden Kulturen sowie
der lebendigen, aber auch ruhigen Orte wie das ursprüngliche Rixdorf in Neukölln prägen.
Berlin's Einzigartigkeit, welche auch international immer stärker werdenden Anklang
findet, setzt Berlin mit seiner Architektur und Stadtplanung in die Verantwortung diese zu
bewahren und sich selbstverständlich aber auch den neuen Gegebenheiten, wie den
wachsenden Städten bzw. der Landflucht, der wandelnden Arbeitswelt und den
Anforderungen an Nachhaltigkeit und Ökologie anzupassen, um auch langfristig ein
attraktiver Lebens- und Arbeitsstandort zu bleiben.
Intelligente und innovative Architektur und Stadtplanung können ein Mittel sein, diesen
Anforderungen gerecht zu werden,
So sollten gerade öffentliche Gebäude wegweisend sein und als Referenzobjekt
angesehen werden können. Der Bau eines Schlosses im öffentlichen Raum, der Umbau
einer Bauakademie oder der Bau eines Flughafens sind Projekte mit Außenwirkung,
sowohl national als auch international. Bei der Planung solcher Objekte sollten Aspekte
wie Ökologie, Langlebigkeit und Wertevermittlung die entscheidende Rolle spielen,
anstelle ausschließlich wirtschaftlicher Aspekte und Prestige.
Aber auch der einzelne Bürger Berlins sollte sich nachhaltig fragen, ob es sinnvoll ist, dass
eigene Haus mit einer 20cm starken, undurchlässigen Wärmedämmung einzupacken und
mit künstlicher Belüftung zu leben, wo doch die Geschichte schon bewiesen hat, dass
natürliche, ortsspezifische Materialien langlebiger sind.
Haben sich unsere Werte nicht generell in eine sehr lch-bezogene Richtung gewandelt?
Warum baut kaum noch jemand für nachfolgende Generationen, sondern nur noch
preisgünstig für sich selber? Kann man nicht auch mit ein paar Grad weniger im
Wohnzimmer und ein paar Quadratmater weniger an Wohnfläche glücklich werden?
Könnte die Subventionierung von Werterhaltung, langlebigen Bauen sowie der
Verwendung natürlicher und rückführbarer Baustoffe in Umdenken und der Art und Weise,
wie wir heutzutage bauen, bewirken und möglicherweise das ökologische Bauen
nachhaltig stimulieren? In Norwegen fährt die Mehrzahl der Einwohner Elektroautos, da
diese massiv gefördert werden. Warum sollte dieses Prinzip nicht auch im Bauwesen in
Deutschland funktionieren?
Durch gezielte Anreize könnte vermieden werden, dass ein erst 25-jähriges Gebäude
(Altersheim) am Hackeschen Markt abgerissen und durch Wohnungen im
Hochpreissegment ersetzt wird. Das schnelle Hochziehen von Gebäuden und der
Kostendruck zur Verwendung von Materialien mit oftmals schwieriger Rückführbarkeit in
den ökologischen Kreislauf, fördern immer stärker, dass Individualität und Charme
verloren gehen.
Das Berlin der Kontraste, wie wir es heute kennen und lieben, konnte sich auch
entwickeln, da sich in Bestandsgebäuden das Leben über mehrere Generationen
entwickeln und die Kieze von Berlin somit formen konnten.
Ich bin der Meinung, dass Politik mit ihren Mitteln der Gesetzgebung sowie einer
stadtplanerischen Vorreiterrolle einen großen Anteil zu einem Nach- und Umdenken in
der Bevölkerung beitragen könnte und Berlin als Vorbild auch für andere Städte glänzen
zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Architektin Annelie Seemann
Seemann - Torras Architektur
Freienwalder Straße 17
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